B06Migration und Sozialstaat in den USA: Globale und nationale Dynamiken in der bürokratischen Humandifferenzierung
Das Projekt untersucht bürokratische Humandifferenzierung am Beispiel von Migrationspolitik und Sozialstaatlichkeit in den USA zwischen den Weltkriegen. Dabei verstehen wir Genese, Funktionalität und Bedeutung von Humandifferenzierungen in der Geschichte der Einwanderungs- und Sozialpolitik als Teil der Verhandlung des Spannungsverhältnisses zwischen der Konsolidierung moderner Nationalstaaten und transnationalen Dynamiken. Migrations- und Sozialpolitik legen die Zugangsrechte zu nationalen Territorien und staatsbürgerlichen Privilegien sowie Ansprüche auf gesellschaftliche Solidarität und soziale Leistungen fest. Zugleich sind sie genau die Bereiche, in denen transnationale Herausforderungen wie Arbeitskräftemobilität, globaler Handel, internationale Kriegsführung und (De)Kolonisation sich am deutlichsten gesellschaftspolitisch und ökonomisch bemerkbar machen. Die Hypothese des Projekts lautet, dass die Kodifizierung des Wissens über Einwanderer die wohlfahrtsstaatliche Politik im Kontext der kulturellen, politischen und sozioökonomischen Transformationen zwischen den Weltkriegen fundamental prägte.

Hintergrund
Die Periode zwischen den Weltkriegen markiert in den USA einerseits den Wandel von der relativen Freizügigkeit zur restriktiven Regulierung der Einwanderung, andererseits den Übergang vom sozialpolitisch abstinenten zum sozialpolitisch aktiven Zentralstaat. Zugleich ist die Zwischenkriegszeit geprägt vom wachsenden globalen wirtschaftlichen Einfluss der USA, politischen Debatten über ihre internationale Rolle, und neuen soziokulturellen Herausforderungen u.a. durch mexikanische Einwanderung und afroamerikanische Binnenmigration. In diesem Kontext haben sich die elementaren Kategorien der Humandifferenzierung in der Migrations- und Sozialpolitik in enger Beziehung zueinander entwickelt. Über die Analyse zivilgesellschaftlicher und staatlicher Akteure beleuchtet das Projekt, wie Kategorien wie z.B. „Rasse“, „Ethnizität“, „Bedürftigkeit“ und „Anspruchsberechtigung“ in Bezug zueinander konstruiert und operationalisiert wurden. Dabei untersucht es vor allem die Prozesshaftigkeit und Kontingenz wissenschaftlicher Taxonomien, Rechtsordnungen, bürokratischer Sprachregelungen und Institutionen im Kontext sich wandelnder historischer Rahmenbedingungen. Insbesondere verdeutlicht es die Bedeutung der Kategorisierungsprozesse für die komplexe Verhandlung der Widersprüche, Ambivalenzen und transnationalen Herausforderungen in der Etablierung nationalstaatlicher Macht.
Weiterentwicklung
Im nächsten Schritt wollen wir unsere Forschung um den Aspekt der Konsumpolitik erweitern. Der Übergang zu einer konsumorientierten Wirtschaft und die Möglichkeit der „Freiheit vom Mangel“ gehören zu den zentralen Erfahrungen der industriellen Moderne des 20. Jahrhunderts. Viele Experten, Sozialreformer, Bürokraten, Gewerkschafter usw., die Ideen des „Wohlstands für alle“ und konsumpolitische Institutionen mitgestaltet haben, taten dies auf der Grundlage ihrer Analyse des „Einwanderungsproblems“ und ihrer Unterstützung für restriktive und rassistische Immigrationsgesetze. In dem Projekt untersuchen wir ihre Kategorisierung von Einwanderern, z. B. in Bezug auf Ernährung, Gesundheit, Bildung, soziale Gewohnheiten, häusliches Leben, Hygiene und Einkommen, als Teil der Konstruktion der Sozialfigur des Konsumenten. Unsere Untersuchung legt nahe, dass dieser migrationspolitische Kontext die humandifferenzierenden Taxonomien der modernen Konsumpolitik wesentlich prägte. Aus diesem Blickwinkel betrachtet hat die einwanderungsfeindliche Stimmung in den USA heute weniger mit der Anzahl oder Herkunft der Einwanderer zu tun als mit einer Krise der Konsumgesellschaft im Zeitalter begrenzter Ressourcen.
Konferenzvorträge und -organisation:
Panel „Immigration and the ‘American Standard of Living’: How the Encounter with Foreign Peoples in the Progressive Era Shaped the Politics of Consumption in the U.S.”, Jahrestagung der Organization of American Historians (OAH), Chicago, April 2025.
Vortrag, Axel Schäfer, "The ‘Tempest Tossed’ and the ‘People of Plenty’: Migration and the Politics of Consumption in the U.S. Since the 1880s”, Cambridge University American History Seminar.
Internationaler Workshop, „Migration and Consumption", Mainz, Juni 2024.
Vortrag, Anja-Maria Bassimir, „Scoring Health in Maine: Nutrition Extension and the Measuring of Health Between the Wars“, Jahrestagung der Historiker in der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien (DGfA), „Health in America“, Erfurt, Mai 2024.
Vortrag, Anja-Maria Bassimir, „A Taste of America: How Turn-of-the-Century Marginalization of Immigrant Food Ways Defined an American Standard of Living”, Konferenz der European Association of American Studies (EAAS), München, April 2024.
Symposium „Migrants, Environmental Knowledge, and Consumer Society”, University of California Berkeley, September 2023. Conference Report.
Panel „Ownership, Human Differentiation, and the Politics of Consumption”, Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien (DGfA), Rostock, Juni 2023.
Organisation der der Jahrestagung der Historiker in der Deutschen Vereinigung für Amerikastudien (DGfA), „Labor and Capital in U.S. History,“ online in Mainz 2021 und 2022 (Pandemiejahre).
Panel „Immigration“ auf der Jahrestagung der Historiker in der Deutschen Vereinigung für Amerikastudien (DGfA), „Reform Movements in U.S. History“, Bad Bevensen, 2020.