Die Befreiung und Kategorisierung jüdischer Frauen in Kaunitz (Westfalen) ab 1945. Ein Fallbeispiel für Differenzierungsprozesse in der Nachkriegszeit

Christina Wirth

Im Juli und November 1944 wurden ungefähr 800 jüdische Frauen aus Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei von Auschwitz zur Zwangsarbeit nach Lippstadt verbracht. Am 1. April 1945 wurden sie durch die US-Armee – während die Frauen vom SS-Wachpersonal zu einem „Todesmarsch“ gezwungen wurden – in Kaunitz (Westfalen) befreit. Abweichend von ihren Richtlinien entschieden sich die Soldaten der 30. Infanteriedivision der 9. US-Armee dafür, die Frauen nicht in nahegelegenen Sammelunterkünften unterzubringen. Stattdessen besetzten sie gemeinsam die Häuser im Ort. Mit der Eingliederung Westfalens in die Britische Besatzungszone im Mai 1945 wurden diese Häuser offiziell zum Displaced Persons Assembly Center (DPAC). So wurde das DPAC Kaunitz durch Zufall und vor anderen Lagern zu einem ausschließlich jüdischen DPAC.

Dieses Vorgehen und dessen Folgen sind ein ideales Fallbeispiel für die Untersuchung historischer Differenzierungsprozesse und deren Auswirkungen. In diesem Beitrag beleuchtet Christina Wirth anhand der unterschiedlichen Kategorisierungen der in Kaunitz aufgefundenen jüdischen Frauen durch die amerikanischen Soldaten, britischen Behörden bzw. Hilfsorganisationen sowie die deutschen Dorfbewohner:innen und Behörden deren Auswirkungen auf die Nachkriegsordnung; insbesondere in Bezug auf den Kampf von Jüdinnen und Juden, als separate Gruppe angesehen zu werden. Dabei ist es elementar, die Sicht und Handlungsmacht (Agency) der Betroffenen einzubinden. Bei dem Einblick in das Kaunitzer Fallbeispiel handelt es sich um einen Auszug aus Wirths Dissertationsprojekt am Mainzer Sonderforschungsbereich „Humandifferenzierung“.

Wirth, Christina 2024: Die Befreiung und Kategorisierung jüdischer Frauen in Kaunitz (Westfalen) ab 1945. Ein Fallbeispiel für Differenzierungsprozesse in der Nachkriegszeit. In: Westfalen/Lippe – historisch. Blog der historischen Kommission für Westfalen.

Bild: Gedenktafel für die in Kaunitz befreiten Frauen (Foto: Christina Wirth). Text: „Hier wurden am 1. April 1945 über 700 jüdische Frauen durch amerikanische Soldaten befreit. Sie waren auf dem Marsch von Lippstadt in das KZ Bergen-Belsen, wo sie getötet werden sollten. Als billige Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie waren sie aus dem KZ Auschwitz nach Lippstadt geholt worden. Dieser Gedenkstein soll an das Leid dieser Frauen und aller Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Er soll uns gleichzeitig mahnen, Unrecht gegenüber Menschen in keiner Form hinzunehmen, sondern ihm mutig entgegenzutreten.“