Humandifferenzierung im Spiegel der Cetologie: Herman Melvilles Walkunde
Vortrag von Prof. Dr. Friedrich Balke
Klassifikationen bewirken auf eine sehr grundsätzliche, aber auch verwickelte Weise die Aufteilung des Sinnlichen. Innerhalb eines Gemeinsamen bestimmen sie die jeweiligen Orte, Anteile und Tätigkeiten, womit sie zugleich den sense of one’s place festlegen. Literatur ist eine Weise, diese Ordnung der Dinge zu irritieren. Selbst dort, wo sie, wie in den großen Gesellschaftsromanen des 19. Jahrhunderts umfassende soziale Klassifikationssysteme errichtet, die mit der entstehenden Soziologie rivalisieren (Balzac), scheitert die „Aufräumwut“ (Georges Perec) alles Klassifizierens an der Überfülle der aufzuräumenden Dinge.
Vor diesem theoretischen Hintergrund geht mein Vortrag einer exemplarischen Auseinandersetzung mit einem Klassifikationssystem nach, das im 19. Jahrhundert entstanden ist und dem Herman Melville in Moby-Dick ein ganzes Kapitel widmet: der Cetologie. Klassifizieren ist nichts anderes als die Aufteilung der Welt in ein “set of boxes” (Susan Leigh Star/Geoffrey Bowker). Menschen klassifizieren – aber als Klassifizierende kommen sie nicht um die Einsicht herum, dass alles Klassifizieren von “classification struggles” und einem taxonomischen Schwindel heimgesucht wird. Moby Dick, der weiße Wal, erscheint in Melvilles Roman als jener unmarked space, der sich nicht in seine Grenzen einschließen lässt und sich von den für seine Spezies vorgesehenen zoologischen Kategorien, wie sie die Cetologie entwickelt, nicht erfassen lässt. Dem Konzept der Klassifikation stellt Melville ein Konzept der (monströsen) Allianz gegenüber, die den Wal in die Position des Gefährten, genauer: der companion species einrücken lasst.
Friedrich Balke ist Professor für Medienwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Theorie, Geschichte und Ästhetik bilddokumentarischer Formen an der Ruhr-Universität Bochum. Er leitet das DFG-Graduiertenkolleg 2132 „Das Dokumentarische. Exzess und Entzug“ und ist Co-Sprecher des „College for Social Science and Humanities“ der Research Alliance Ruhr. Forschungsschwerpunkte: Grenzgebiete zwischen politischer Theorie, Literatur und Medien; Theorie und Geschichte mimetischer Praktiken; Formen und Funktionen des Dokumentarischen; Medienphilologie. Publikationen u.a.: Figuren der Souveränität, München 2009; Medienphilologie. Konturen eines Paradigmas (hg. mit Rupert Gaderer), Göttingen 2017; Mimesis zur Einführung, Hamburg 2018; Durchbrochene Ordnungen. Das Dokumentarische der Gegenwart (hg. mit Oliver Fahle und Annette Urban), Bielefeld 2020.